Mike Meiré – All We Ever Wanted Was Everything All We Ever Got Was Cold / Bauhaus, 1979-1983 Volume Two

17.10 – 14. 11.2015All We Ever Wanted Was Everything All We Ever Got Was Cold_1 All We Ever Wanted Was Everything All We Ever Got Was Cold_2 All We Ever Wanted Was Everything All We Ever Got Was Cold_3All We Ever Wanted Was Everything All We Ever Got Was Cold_4

Text zur Ausstellung:
DIE WIRKLICHKEIT UNSERER STÄDTE
ÜBER MIKE MEIRÉS INSTALLATION FÜR 5,26 m³

Jeder hat schon einmal zögernd in eine Fußgänger­unterführung geschaut. Soll man die Passage wa­gen? Oder entscheidet man sich doch dazu, das Hindernis, das sie unterqueren soll, entgegen der Planung oberirdisch zu überwinden? Anders als es ihr sehr praktischer Zweck vorgibt, bleiben uns Fuß­gängerunterführungen zumeist als Angsträume in Erinnerung, die jeder, so gut es geht, meidet. Einst als modernes städtebauliches Hilfsmittel zur Durch­setzung der autogerechten Stadt allerorten einge­setzt, sind sie in Verruf geraten.
Soweit die bekannte Geschichte des Scheiterns, die viele gerne als symptomatisches Scheitern der Moderne insgesamt lesen möchten. Man könnte den Text hier beenden und ein Loblied auf die durch­ gentrifizierte „Europäische Stadt“ singen. Interes­sant wird die Geschichte jedoch, wenn diese dys­funktionalen Nicht­Orte, die geradezu aus der öko­nomischen Verwertung herausgefallen sind, in der kommerzialisierten, privatisierten Stadt, in der jeder Quadratmeter Boden dem Verwertungsdruck aus­ gesetzt ist, zu Möglichkeitsräumen werden, die ab­ weichendes Verhalten zulassen. Statt sie zu homo­genisieren und in eine weitere glatte, herausgeputzte, konsumorientierte Umgebung zu verwandeln, kann man sie durch Aneignung für die Subkultur aktivie­ren. Dass man sich an diesen Orten mitunter auch gerne aufhält, zeigt uns die U­Bahn­Unterführung Ebertplatz in Köln. Im hiesigen Restaurant „African Drum“ fanden die gleichnamigen, fast schon legen­ dären Techno Partys statt. Die gleiche Subkultur fand sich nur einige Meter von der Unterführung entfernt im King George zusammen, in dem auch Punk Konzerte und Lesungen stattfinden.
Trotzdem ist die U­Bahn­Unterführung Ebert­platz vor allen Dingen denjenigen ein Dorn im Auge, die sich hier kaum aufhalten und die sie als städ­tischen Möglichkeitsraum nicht in Betracht ziehen. Als Lösung für die „erheblichen städtebaulichen De­fizite“ ließ die Stadt kürzlich verlautbaren, dass in einer bis 2018 durchzuführenden Maßnahme die Verbindungswege über und unter dem Ebertplatz wieder ebenerdig verlaufen sollen. Der Ort wird dem­ nächst „auf die Möglichkeit der Rückgewinnung von Aufenthaltsqualität und klarer gestalterischer Sprache“ untersucht. In der Verlautbarung der Stadt wurde auch auf den Umstand verwiesen, dass durch die vorhandenen Höhenunterschiede und die an den Platzrändern beginnenden Tunnelbauwerke eine „soziale Kontrolle“ nur eingeschränkt möglich sei.
Einen Ort, der diese Situation reflektiert, bieten in der Unterführung die zwei Vitrinen des Kunstraums 5,26 m3. Der Designer und Künstler Mike Meiré be­spielt sie mit seiner künstlerischen Intervention ab heute für einen Monat.
Diverse Platten lehnen hier an der Wand. In der linken Vitrine sind es Holzplatten, auf die das Cover der suhrkamp Edition von Alexander Mitscherlichs Klassiker „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ per Siebdruckverfahren aufgebracht ist. Das charakteristische Suhrkamp­ Gelb deckt sich hier mit dem Gelb der in Melaminharz getauchten Schalungs­tafeln, ein alltägliches Material, das man häufig auf Baustellen findet.
Rechts daneben in der anderen Vitrine sind wieder Platten – dieses Mal graue handelsübliche Rigipsplatten. Auch sie sind bedruckt: Das Motiv ist ein Still aus der Buchverfilmung Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.
Mitscherlichs Abhandlung über den Städtebau der Moderne war ab Mitte der 1960er­Jahre Aus­druck einer populären Kritik an der modernen Stadt. Der an funktionalistische Prinzipien orientierte Wie­deraufbau nach dem Krieg habe zu einer Entmi­schung des Stadtraums geführt. Der „Unsinn einer Entmischung“ bewirke den Verfall der städtischen Öffentlichkeit. Diese Sichtweise ist heute allgemein anerkannt. Eine neue Generation von Planern und Architekten hat längst die Mischung zu ihrem Ar­beitsprinzip erhoben. Der weniger anklagende als vielmehr konkret analysierende Blick Mitscherlichs bietet heute durchaus Anknüpfungspunkte, da es ihm vor allem um eine neue Bewusstseinsbildung ging. Denn der „Unsinn einer Entmischung“, der den Verfall der städtischen Öffentlichkeit bewirkt, existiert heute weiterhin, allerdings nicht mehr im Zeichen moderner Stadtplanung, sondern als Fol­ge eines homogenisierten Raums des Konsums. Ein weiterer Mechanismus, den Mitscherlich als Grund für die Unwirtlichkeit unserer Städte ansieht, ist der privatisierte Grund und Boden der Stadt selbst. Dieses strukturelle Problem tritt heute in verschärfter Form als privatisierte „öffentliche“ Räume auf. Auch vor diesem Hintergrund sind sol­che Orte wie der Ebertplatz von Interesse, die sich nicht so leicht der Verwertung zuführen lassen.
Ein weiterer Kritikpunkt Mitscherlichs waren die Siedlungstypen, die Entmischung und Monotonie beförderten – vor allem die Großsiedlungen. Er sah die gebaute Umwelt als „Prägestöcke“, die eine un­ mittelbare Wirkung auf die menschliche Psyche hätten. In dieser Lesart passten sich die Menschen an ihre inhumane Umgebung an, was zu allerlei neu­rotische Fehlentwicklungen führe.
Das führt uns zu der zweiten Arbeit vom Mike Meiré, für die er als Medium die Rigipsplatte wählt. Die Trägermaterialien der beiden Arbeiten verweisen insgesamt auf das Material der modernen Architek­tur, wie sie vor allem in jeden von Mitscherlich als monoton beschriebenen Großsiedlungen verwendet wurden. Und in einer solchen Großsiedlung, der Ber­liner Gropiusstadt, ist Christiane Felscherinow auf­gewachsen. Ihre Geschichte wirft die Frage auf, ob tatsächlich die Siedlungsform zu der von Mitscher­lich beschriebenen Verrohung und Entsozialisierung der Gesellschaft geführt haben. Aus heutiger Sicht ist Mitscherlichs stark psychologisierende Interpre­tation nicht mehr haltbar. Denn sie vernachlässigt die sozialen Umstände der Bewohner. Zumal aufgrund des knappen Wohnungsangebots nach dem Krieg die relativ gut ausgestatteten Wohnungen der Groß­siedlungen bei den Erstbewohnern besonders be­liebt waren – trotz der monotonen Umgebung.
Dort wo sehr bald keiner mehr wohnen wollte, nämlich in der Trabantenstadt, wollten am Anfang noch viele hin. Stellte die Gropiusstadt in den ers­ ten Jahren einen attraktiven Ortsteil im ehemaligen West­Berlin dar, der Lebensqualität bot, die es in der Innenstadt oft nicht gab, so entwickelte er sich ab Ende der 1970er Jahre durch die soziale Ent­ mischung mit 90 prozentigem Sozialbauwohnungs­ anteil zum Problemgebiet.
Als Christiane F. am Zoo zum Junkie wurde, war Mitscherlichs Buch bereits über 10 Jahre alt. In Wir Kinder vom Bahnhof Zoo wird die Monotonie des gekachelten, städtischen Transitraums, der zum Zu­hause gescheiterter Existenzen wurde, gefühlt in jeder zweiten Einstellung gezeigt. Statt der Kor­relation sozialer Zustände mit bestimmten Stadt­räumen ist es Mitscherlichs These von der schäd­lichen Entmischung, die auch heute noch unver­ändert aktuell ist, wenn wir sie nicht nur funktional, sondern auch sozial auffassen.
Mike Meiré fokussiert all diese Assoziationen, seien sie dunkler oder heller Natur, im Titel seiner Ausstellung, für den er aus dem Text eines Songs der New Wave Band Bauhaus zitiert:
All We Ever Wanted Was Everything All We Ever Got Was Cold
Damit spannt er den Bogen zwischen Christiane F., die ihr erstes Heroin­High auf einem David Bowie­ Konzert erlebte, und der als „unwirtlich“ und kalt empfundenen Realität der in Beton und Rigips ausgeführten Nachkriegsgroßstadt, mit deren Hin­terlassenschaften wir heute umzugehen lernen müssen, anstatt sie einer homogenisierenden Auf­ wertungstendenz zu unterwerfen.

Text: ANH-LINH NGO UND STEPHAN REDEKER, ARCH+