17.10 – 14. 11.2015
Text zur Ausstellung:
DIE WIRKLICHKEIT UNSERER STÄDTE
ÜBER MIKE MEIRÉS INSTALLATION FÜR 5,26 m³
Jeder hat schon einmal zögernd in eine Fußgängerunterführung geschaut. Soll man die Passage wagen? Oder entscheidet man sich doch dazu, das Hindernis, das sie unterqueren soll, entgegen der Planung oberirdisch zu überwinden? Anders als es ihr sehr praktischer Zweck vorgibt, bleiben uns Fußgängerunterführungen zumeist als Angsträume in Erinnerung, die jeder, so gut es geht, meidet. Einst als modernes städtebauliches Hilfsmittel zur Durchsetzung der autogerechten Stadt allerorten eingesetzt, sind sie in Verruf geraten.
Soweit die bekannte Geschichte des Scheiterns, die viele gerne als symptomatisches Scheitern der Moderne insgesamt lesen möchten. Man könnte den Text hier beenden und ein Loblied auf die durch gentrifizierte „Europäische Stadt“ singen. Interessant wird die Geschichte jedoch, wenn diese dysfunktionalen NichtOrte, die geradezu aus der ökonomischen Verwertung herausgefallen sind, in der kommerzialisierten, privatisierten Stadt, in der jeder Quadratmeter Boden dem Verwertungsdruck aus gesetzt ist, zu Möglichkeitsräumen werden, die ab weichendes Verhalten zulassen. Statt sie zu homogenisieren und in eine weitere glatte, herausgeputzte, konsumorientierte Umgebung zu verwandeln, kann man sie durch Aneignung für die Subkultur aktivieren. Dass man sich an diesen Orten mitunter auch gerne aufhält, zeigt uns die UBahnUnterführung Ebertplatz in Köln. Im hiesigen Restaurant „African Drum“ fanden die gleichnamigen, fast schon legen dären Techno Partys statt. Die gleiche Subkultur fand sich nur einige Meter von der Unterführung entfernt im King George zusammen, in dem auch Punk Konzerte und Lesungen stattfinden.
Trotzdem ist die UBahnUnterführung Ebertplatz vor allen Dingen denjenigen ein Dorn im Auge, die sich hier kaum aufhalten und die sie als städtischen Möglichkeitsraum nicht in Betracht ziehen. Als Lösung für die „erheblichen städtebaulichen Defizite“ ließ die Stadt kürzlich verlautbaren, dass in einer bis 2018 durchzuführenden Maßnahme die Verbindungswege über und unter dem Ebertplatz wieder ebenerdig verlaufen sollen. Der Ort wird dem nächst „auf die Möglichkeit der Rückgewinnung von Aufenthaltsqualität und klarer gestalterischer Sprache“ untersucht. In der Verlautbarung der Stadt wurde auch auf den Umstand verwiesen, dass durch die vorhandenen Höhenunterschiede und die an den Platzrändern beginnenden Tunnelbauwerke eine „soziale Kontrolle“ nur eingeschränkt möglich sei.
Einen Ort, der diese Situation reflektiert, bieten in der Unterführung die zwei Vitrinen des Kunstraums 5,26 m3. Der Designer und Künstler Mike Meiré bespielt sie mit seiner künstlerischen Intervention ab heute für einen Monat.
Diverse Platten lehnen hier an der Wand. In der linken Vitrine sind es Holzplatten, auf die das Cover der suhrkamp Edition von Alexander Mitscherlichs Klassiker „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ per Siebdruckverfahren aufgebracht ist. Das charakteristische Suhrkamp Gelb deckt sich hier mit dem Gelb der in Melaminharz getauchten Schalungstafeln, ein alltägliches Material, das man häufig auf Baustellen findet.
Rechts daneben in der anderen Vitrine sind wieder Platten – dieses Mal graue handelsübliche Rigipsplatten. Auch sie sind bedruckt: Das Motiv ist ein Still aus der Buchverfilmung Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.
Mitscherlichs Abhandlung über den Städtebau der Moderne war ab Mitte der 1960erJahre Ausdruck einer populären Kritik an der modernen Stadt. Der an funktionalistische Prinzipien orientierte Wiederaufbau nach dem Krieg habe zu einer Entmischung des Stadtraums geführt. Der „Unsinn einer Entmischung“ bewirke den Verfall der städtischen Öffentlichkeit. Diese Sichtweise ist heute allgemein anerkannt. Eine neue Generation von Planern und Architekten hat längst die Mischung zu ihrem Arbeitsprinzip erhoben. Der weniger anklagende als vielmehr konkret analysierende Blick Mitscherlichs bietet heute durchaus Anknüpfungspunkte, da es ihm vor allem um eine neue Bewusstseinsbildung ging. Denn der „Unsinn einer Entmischung“, der den Verfall der städtischen Öffentlichkeit bewirkt, existiert heute weiterhin, allerdings nicht mehr im Zeichen moderner Stadtplanung, sondern als Folge eines homogenisierten Raums des Konsums. Ein weiterer Mechanismus, den Mitscherlich als Grund für die Unwirtlichkeit unserer Städte ansieht, ist der privatisierte Grund und Boden der Stadt selbst. Dieses strukturelle Problem tritt heute in verschärfter Form als privatisierte „öffentliche“ Räume auf. Auch vor diesem Hintergrund sind solche Orte wie der Ebertplatz von Interesse, die sich nicht so leicht der Verwertung zuführen lassen.
Ein weiterer Kritikpunkt Mitscherlichs waren die Siedlungstypen, die Entmischung und Monotonie beförderten – vor allem die Großsiedlungen. Er sah die gebaute Umwelt als „Prägestöcke“, die eine un mittelbare Wirkung auf die menschliche Psyche hätten. In dieser Lesart passten sich die Menschen an ihre inhumane Umgebung an, was zu allerlei neurotische Fehlentwicklungen führe.
Das führt uns zu der zweiten Arbeit vom Mike Meiré, für die er als Medium die Rigipsplatte wählt. Die Trägermaterialien der beiden Arbeiten verweisen insgesamt auf das Material der modernen Architektur, wie sie vor allem in jeden von Mitscherlich als monoton beschriebenen Großsiedlungen verwendet wurden. Und in einer solchen Großsiedlung, der Berliner Gropiusstadt, ist Christiane Felscherinow aufgewachsen. Ihre Geschichte wirft die Frage auf, ob tatsächlich die Siedlungsform zu der von Mitscherlich beschriebenen Verrohung und Entsozialisierung der Gesellschaft geführt haben. Aus heutiger Sicht ist Mitscherlichs stark psychologisierende Interpretation nicht mehr haltbar. Denn sie vernachlässigt die sozialen Umstände der Bewohner. Zumal aufgrund des knappen Wohnungsangebots nach dem Krieg die relativ gut ausgestatteten Wohnungen der Großsiedlungen bei den Erstbewohnern besonders beliebt waren – trotz der monotonen Umgebung.
Dort wo sehr bald keiner mehr wohnen wollte, nämlich in der Trabantenstadt, wollten am Anfang noch viele hin. Stellte die Gropiusstadt in den ers ten Jahren einen attraktiven Ortsteil im ehemaligen WestBerlin dar, der Lebensqualität bot, die es in der Innenstadt oft nicht gab, so entwickelte er sich ab Ende der 1970er Jahre durch die soziale Ent mischung mit 90 prozentigem Sozialbauwohnungs anteil zum Problemgebiet.
Als Christiane F. am Zoo zum Junkie wurde, war Mitscherlichs Buch bereits über 10 Jahre alt. In Wir Kinder vom Bahnhof Zoo wird die Monotonie des gekachelten, städtischen Transitraums, der zum Zuhause gescheiterter Existenzen wurde, gefühlt in jeder zweiten Einstellung gezeigt. Statt der Korrelation sozialer Zustände mit bestimmten Stadträumen ist es Mitscherlichs These von der schädlichen Entmischung, die auch heute noch unverändert aktuell ist, wenn wir sie nicht nur funktional, sondern auch sozial auffassen.
Mike Meiré fokussiert all diese Assoziationen, seien sie dunkler oder heller Natur, im Titel seiner Ausstellung, für den er aus dem Text eines Songs der New Wave Band Bauhaus zitiert:
All We Ever Wanted Was Everything All We Ever Got Was Cold
Damit spannt er den Bogen zwischen Christiane F., die ihr erstes HeroinHigh auf einem David Bowie Konzert erlebte, und der als „unwirtlich“ und kalt empfundenen Realität der in Beton und Rigips ausgeführten Nachkriegsgroßstadt, mit deren Hinterlassenschaften wir heute umzugehen lernen müssen, anstatt sie einer homogenisierenden Auf wertungstendenz zu unterwerfen.
Text: ANH-LINH NGO UND STEPHAN REDEKER, ARCH+