Daniel Karrer – On Edge

„On Edge“ von Daniel Karrer,
09.07.22-17.09.22
oil, acrylic, reverse glass painting, each 95 x 80 cm

Alles ist kontextualisierbar, nichts rechtfertigungslos universalisierbar. Jedes Mal, wenn ich abstrakte Kunst anschaue, frage ich mich, was (in dem jeweiligen Moment) für sie gilt. Erübrigt sich Sprache, wenn Form für sich steht, eine eigene Sprache verfolgt? Wann ist Sprache hier Notwendigkeit, habit, Hegemonie, Verkaufsstrategie, Vermittlerin, Skepsis davor, Form ihre eigene Logik der Vermittlung zuzusprechen?

Daniel Karrer überbrückt diesen Einstieg, da er die Trennung von Sprache und Form schon in dem Titel der ausgestellten Arbeit auflöst. „On Edge“, so ist die flächige, digital wirkende Malerei benannt, die sich über die Teilung zweier Schaufenster in der rot gefliesten U-Bahnstation hinweg streckt. Die Ecke, oder edge, ist hier figürlich gemeint: scharfkantig. Being on edge ist dagegen eine weitere Bedeutung des Ausdrucks: If you or your nerves are on edge, you are tense, nervous, and unable to relax.1 Damit vereint Karrer materielle und sprachliche Ebene, wobei erstere eben eine scharfe Kante, letztere einen angespannten Gemütszustand ausdrückt.

So auch in den „Erscheinungen“, wie er die aktuelle Reihe bezeichnet, zu der „On Edge“ gehört. Damit meint Karrer den Effekt, der entsteht, wenn Malerei hinter Glas auftaucht, durch die Brechung des Lichts andere Merkmale der Malerei zur Geltung kommen und die so etwas geisterhaftes hat. Auch hier ist also die Ebene der Materie direkt in den Prozess des Konstituierens von Bedeutung/en involviert.

Das Material verfolgt trotz dieser Anhaltspunkte ein eigenes Narrativ, das nicht primär sprachlich funktioniert und damit rein formell schon über sich selbst hinausweist, ohne auf konkrete Referenzen Bezug nehmen zu müssen. Trotzdem drängen sich mir einige Zusammenhänge auf, die außer- halb einer formimmanenten Sprache liegen. Die Oberflächen sind gleichzeitig abweisend-glatt und sanft-milchig, entsprechend der doppelten Funktion von social media interfaces: zugänglich, aber durch eine Ausbeutungslogik strukturiert. Andere Elemente scheinen den öffentlichen Raum zu thematisieren. Bänke, die konstruiert sind, um Obdachlosen den Aufenthalt zu verunmöglichen, grausame Produkte der durch eine neoliberale Ökonomie strukturierte Gesellschaft, sehen paradoxerweise oft selbst aus wie Skulpturen, die ihrem eigenen Nutzen entbehren. Das Objekt in der Malerei erinnert ein wenig daran und bricht gleichzeitig damit. Denn die Striche auf dem oberen, matt- himmelblauen Teil der Figur drücken auf den ersten Blick Nervosität aus. Auf den zweiten Blick können sie auf das Aneignen von öffentlichem Raum hinweisen. Diese beiden sich wiedersprechenden Gesten in Bezug auf öffentlichen Raum spiegeln sich für mich in Karrers Hinterglas-Acrylmalereien. Nicht nur kehrt das Glas die Merkmale der Malerei um, die unsere Sehgewohnheiten erwarten (weswegen man sich deswegen fragt, ob sie manuell oder digital gemalt ist). Sie verbindet auch die beiden sich zunächst scheinbar wechselseitig ausschließenden Ebenen, die Frage nach Zugriff, nach Abweisung und Aneignung öffentlicher, digitaler, von unterschiedlichsten Ausschlussmechanismen strukturierter Räume.

1 Collins Dictionary: Online: https://www.collinsdictionary.com/de/worterbuch/englisch/on-edge

Leonie Döpper